Automatismen aufheben mit Hypnose? – Nachgefragt bei der Wissenschaft 📚🔬

Stelle dir mal folgendes Szenario vor: Du stehst am Ende einer langen Warteschlange im Supermarkt – und zwar an Kasse 2. Plötzlich hörst du eine Durchsage, die die Öffnung von Kasse 1 ankündigt, während gleichzeitig das grüne Licht über Kasse 3 angeht. Du siehst an keiner der Kassen eine Mitarbeiterin oder Mitarbeiter, weißt aber, dass das grüne Licht bisher zuverlässig eine offene Kasse signalisierte, während die Durchsagen öfter Mal fehlerhaft waren. Vermutlich wirst du also im ersten Moment zögern, bevor du die Entscheidung triffst, deinen Einkauf auf das Fließband von Kasse Nr. 3 zu legen.

Dieses kurze Zögern ist die Konsequenz eines sogenannten kognitiven Konflikts! Die wissenschaftliche Definition lautet: Kognitive Konflikte treten auf, wenn „gleichzeitig vorhandene Reize mit unvereinbaren (inkompatiblen) Optionen assoziiert sind“1. Also einerseits das grüne Licht über Kasse 3 und gleichzeitig die Ansage, dass Kasse 1 öffnen wird.

Stroop-Aufgabe leicht erklärt

Kognitive Konflikte werden mit Hilfe von Tests untersucht, wozu auch die bekannte Stroop-Aufgabe zählt. Die Aufgabe ist ganz simpel: Benenne im folgenden Video einfach die Farbe, in der das Wort geschrieben ist:

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Na? War da ein kurzes Zögern, wenn du eine Farbe gesehen hast, die nicht zur Wortbedeutung passte?

Die Wissenschaft interessiert zum einen die Geschwindigkeit, mit welcher die Versuchsteilnehmer*innen die Farbe benennen können, und zum anderen die Fehlerquote. Dieser Test produziert im Schnitt immer die gleichen Ergebnisse: für BLAU braucht man weniger Zeit, um „blau“ zu sagen (und man macht weniger wahrscheinlich einen Fehler), für ROT braucht man mehr Zeit, um „blau“ zu sagen (und man macht wahrscheinlicher einen Fehler) und für die neutralen Varianten XXX oder SOG liegt man irgendwo dazwischen.

Dieser kognitive Konflikt wird zu den automatischen kognitiven Prozessen gezählt, d.h. die Farbwortbedeutung (z.B. die Bedeutung der roten Farbe in ROT) wird automatisch, ohne dass wir es kontrollieren können, mitverarbeitet und lähmt uns so für einen kurzen Moment.

Was das mit Hypnose zu tun hat, fragst Du Dich?

Was wäre, wenn ich dir in Hypnose vorschlage, für einen kurzen Zeitraum nach dem Aufwachen (= posthypnotische Suggestion), die Worte nicht mehr lesen zu können oder die Buchstaben als Ansammlung merkwürdiger Symbole zu sehen?

Eine spannende Studie2 hat genau das versucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass sich die Reaktionszeit bei inkongruenten Wörtern (also ROT) tatsächlich signifikant verringert. Sprich, ausgestattet mit der posthypnotischen Suggestion, dass die Buchstaben R, O und T zusammen keine Bedeutung haben oder gar nicht erst als Buchstaben erkannt werden, reagieren die Versuchsteilnehmer*innen deutlich schneller mit „Blau!“ als ohne diese Suggestion.

D.h. mit Hypnose kann man die Automatizität unserer kognitiven Prozesse bis zu einem gewissen Grad* aufheben!

Andere Aufgaben zur Messung kognitiver Konflikte

Oder hier eine andere Aufgabe zur Messung eines kognitiven Konflikts: die Eriksen-Aufgabe (bitte nicht mit dem Namensgeber dieser Gesellschaft, Erickson, verwechseln). Im Original dieses Tests sollte man mit dem rechten Finger auf eine Taste drücken, wenn man am Bildschirm die Buchstaben H und K sieht, und mit dem linken Finger, wenn man die Buchstaben S und C sieht. Relevant ist stets der mittlere Buchstabe in einer Reihe von Buchstaben, die gleichzeitig auf dem Bildschirm auftauchen.

Möglichst schnell reagiert man, wenn man folgende Reihe von Buchstaben sieht:

K H K K H


Langsamer und fehlerhafter reagiert man, wenn man jedoch Folgendes sieht:

K H S K H


Warum? Weil die flankierenden Buchstaben in der ersten Reihe die gleiche motorische Reaktion (Bewegung des rechten Fingers) hervorrufen sollten, während sie in der zweiten Reihe störend wirken, weil eigentlich der linke Finger durch den Buchstaben S bewegt werden sollte.

Laut einer Studie3 kann auch hier eine posthypnotische Suggestion helfen, die irrelevanten Buchstaben rechts und links von der Mitte auszublenden.

Der McGurk-Effekt ist das Resultat eines weniger bekannten Tests für automatische kognitive Konflikte, gilt laut manchen Forschenden jedoch als mindestens so robust wie die Stroop-Aufgabe. Schau mal kurz in dieses Video rein (Ton bitte anschalten):

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Du bekommst also zwei verschieden Stimuli dargeboten: einen visuellen (Lippenbewegung) und einen auditiven („ba“). Ist die Lippenbewegung passend zu „ba“ hören wir tatsächlich „ba“; ist sie jedoch unpassend, so hören wir wie in dem Video gezeigt etwas in die Richtung „fa“.

Hochsuggestiblen Personen wurde die posthypnotische Suggestion gegeben, das Visuelle und das Auditive als unterschiedliche Quellen wahrzunehmen, sodass man das Visuelle leichter ausblenden könne4. Illusorische auditive Wahrnehmungen wie „fa“ wurden somit signifikant seltener berichtet bzw. signifikant häufiger wurde korrekterweise „ba“ gehört.

Schön und gut, und was hat das nun mit Hypnotherapie zu tun?

Eine sehr gute Frage. Die Antwort hat etwas mit Aufmerksamkeit zu tun. Diese Studien (methodologische Schwächen hin oder her) lassen den Schluss zu, dass mit Hypnose die Aufmerksamkeits(ab)lenkung ganz erheblich beeinflusst werden kann.

Klar, in dieser Extremform, wo sogar automatische Prozesse deautomatisiert werden können, ist es nur für eine kurze Zeit möglich. Eine posthypnotische Suggestion verliert ihre Wirkung nach kurzer Zeit (von Minuten bis wenigen Stunden).

Kennst du den Spruch: Where your attention goes, your energy flows? Energie fließt dorthin, wo auch unser Aufmerksamkeitsfokus liegt. Verschiedenen Menschen wird dieses Zitat in die Schuhe geschoben, sogar Milton H. Erickson.

Eine passende Anekdote von Paul Watzlawick in "Anleitung zum Unglücklichsein": Unter einer Straßen-laterne steht ein Betrunkener und sucht und sucht. Ein Polizist kommt daher, fragt ihn, was er verloren habe, und der Mann antwortet: “Meinen Schlüssel.“ Nun suchen beide. Schließlich will der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist, den Schlüssel gerade hier verloren zu haben, und jener antwortet: “Nein, nicht hier, sondern dort hinten — aber dort ist es viel zu finster.” 

Und wir alle können etwas mit diesem Satz verbinden, nicht wahr? Lenke ich meine Aufmerksamkeit ständig auf das, was nicht gut funktioniert, passiert etwas mit meiner - pardon - „Energie“: Ich werde gereizt oder traurig, reagiere häufig mit Sarkasmus und ziehe mich zurück.

In der hypnotherapeutischen Arbeit mit Depressionen oder somatoformen Störungen (z.B. chronische Schmerzen ohne organische Ursache) ist die Arbeit an der Aufmerksamkeitslenkung das A und O. Und du weißt vielleicht schon, dass Hypnotherapie 2006 vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie aufgrund der überzeugenden Studienlage für die Bewältigung psychosomatischer Beschwerden anerkannt wurde.

Worauf ich hinaus möchte, ist: Wenn es offenbar möglich ist, automatische kognitive Prozesse mittels Hypnose für kurze Zeit zu deautomatisieren, dann erklärt es auch die Erfolge von Hypnotherapie beispielsweise in der Bewältigung chronischer Schmerzen und bei der Therapie leichter bis mittelschwerer Depressionen.

Ein bisschen mehr Praxisbezug erwünscht?

Wenn du Psychologie oder Medizin studierst oder studiert hast, kennst du vielleicht auch den Satz: Cells that fire together wire together – Zellen, die gemeinsam „feuern“, verdrahten sich auch. Sprich, je öfter wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas Positives lenken, desto stärker verdrahten sich die Neuronen oder Assoziationen zwischen dem Leidgeplagten und dem Positiven. Aus einer kleinen „Straße“ (wenn nur ein paar Neuronen zusammen verknüpft sind) wird eine breitspurige Autobahn von Neuronen – und diese Verbindung wird schwierig zu kappen sein.

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So stellen wir uns Neuronen vor, die Verknüpfungen zueinander herstellen und über Aktivität aufrechterhalten, frei nach dem Motto: Cells that fire together wire together

Achtung: Das ist ein absichtlich vereinfachtes Erklärungsmodell! Auch wenn die Vorgänge in unserem Gehirn komplexer sind, kann es als Orientierung dienen, was bei therapeutischen Veränderungen in unserem Kopf passiert.

In der Praxis wird beispielsweise in Hypnose mit einem positiven Zielbild gearbeitet. Man stellt sich dabei sein realistisches, beeinflussbares Ziel möglichst intensiv vor. Eine Person, die mit chronischer Migräne kämpft, stellt sich beispielsweise vor, wie sie sich in guten Zeiten fühlt, wie leicht und frei der Kopf ist, wie es wieder möglich ist, sich mit Freunden und Freundinnen zu treffen, mit Leichtigkeit einer Arbeit nachzugehen u.s.w.

❗️ Bitte beachte, dass ich Hypnose nicht als Allheilmittel, sondern nur als zusätzliche therapeutische Technik empfehle – mit allen professionellen Einschränkungen, die ausgebildete Hypnotherapeut*innen kennen❗️

Aufmerksamkeitslenkung in der Schmerzbehandlung 🤕

Beispiel Schmerz: Wenn man den gesamten Körper nur noch mit Schmerz und Leid assoziiert, gilt es, in Hypnose einen wenigstens winzig kleinen Punkt im Körper zu finden, wo es sich am wohlsten anfühlt, wo kein Schmerz ist, sondern … das Gegenteil! Je nachdem ist „das Gegenteil“ für verschiedene Menschen etwas anderes. Es könnte beispielsweise ein Gefühl von Leichtigkeit sein oder Kühle. Dieses Gefühl kann in der hypnotherapeutischen Arbeit intensiviert und langsam ausgeweitet werden. Mit zusätzlicher Übung in Selbsthypnose kann man damit schon einige Erfolge erzielen.

Und vielleicht ist ja der Trick, dass man das Nicht-mit-dem-Zielbild-Kompatible, die metaphorischen Störgeräusche in Hypnose besser ausblenden kann – wie in der Eriksen-Aufgabe mit den flankierenden Buchstaben, die man ausblenden soll. Und mit jedem Mal, fällt das Ausblenden leichter und leichter, die Konzentration auf das Zielbild wird immer besser möglich. Automatische Assoziationen werden auf kurze Sicht unterdrückt und auf lange Sicht deautomatisiert.

Aufmerksamkeitslenkung und Selbstfürsorge 💪

Beispiel Selbstwert: Empfindet man in einer Depression nur noch Geringschätzung für die eigene Person, wird die Aufmerksamkeit in Hypnose sachte auf die positiven Aspekte gelenkt: auf Stärken, Fähigkeiten, Talente, gute Erfahrungen, Momente des Stolzes u.s.w. Das gilt natürlich nicht nur für die Arbeit mit Hypnotherapie, jedoch beschäftigt man sich damit in Hypnose viel ... versunkener und hoffentlich emotional intensiver.

Erinnern wir uns an die Stroop-Aufgabe zu Beginn. Die Tendenz, das Wort zu lesen, ist so stark, passiert so automatisch, dass es ohne posthypnotische Suggestion viel Übung braucht, um das zu schaffen. Ähnlich verhält es sich mit anderen Assoziationen, die wir in unserem Leben gelernt haben.

Zum Beispiel die Assoziation „Du musst anderen helfen, koste es was es wolle“. Diese „Autobahn“ in unserem Kopf ist vielleicht 16-spurig. Und obwohl wir wissen, dass es uns schadet, wenn wir uns dauernd aufopfern und die eigenen Bedürfnisse vernachlässigen, sagen wir in der nächsten Situation wieder: „Ja, klar, ich mach’s!“.

Ein Schritt in die richtige Richtung, die automatische Verknüpfung von Situation und Reaktion zu entkoppeln und alternative Wege zu suchen, kann mithilfe von Hypnose probiert werden. Die neue Straße, die man anlegt, könnte lauten: "Du darfst auch mal nein sagen".

Wissenschaft hilft Praxis hilft Wissenschaft…

Dieser Blogartikel ist ein Versuch, einen Link herzustellen, eine Brücke zu schlagen zwischen Wissenschaft und Praxis. Konntest du mit der Übertragung der Forschungsergebnisse in die Praxis etwas anfangen? Hast du vielleicht selbst Praxiserfahrung und möchtest noch etwas ergänzen?

Wie immer freue ich mich über Kommentare und wünsche dir bis zum nächsten Mal viel Gesundheit und Kraft für den Endspurt in Richtung einer pandemiefreien Zeit! Lenken wir unsere Aufmerksamkeit bis dahin doch möglichst auf das Positive.

Autorin: Lisa Anton-Boicuk

Lisa hat ihren Masterabschluss in Klinischer Psychologie an der Universität Wien absolviert und erforschte dort über zwei Jahre lang den Einfluss von Hypnose auf das Wahrnehmen, Denken und Fühlen. Am Milton-Erickson-Institut Rottweil hat sie die Curricula der Klinischen Hypnose und Hypnosystemischen Kommunikation durchlaufen. Heute arbeitet sie als Psychologin in einer psychosomatischen Klinik.


Privat ist sie ambitionierte Kaffeesomelière.


Aktuelles Lieblingsbuch: Mariana Leky "Was man von hier aus sehen kann"

Literaturquellen:

1  Wühr, P., & Kunde, W. (2008). Die kognitive Regulation von Handlungskonflikten. Psychologische Rundschau, 59, 207-216. doi:10.1026/0033-3042.59.4.207 (S. 207)

2  Raz, A., Moreno-Íñiguez, M., Martin, L., & Zhu, H. (2007). Suggestion overrides the Stroop effect in highly hypnotizable individuals. Consciousness and Cognition, 16, 331–338. doi:10.1016/j.concog.2006.04.004

3  Iani, C., Ricci, F., Gherri, E., & Rubichi, S. (2006). Hypnotic suggestion modulates cognitive conflict. The case of the flanker compatibility effect. Psychological Science, 17, 721-727. doi:10.1111/j.1467-9280.2006.01772.x

4  Lifshitz, M., Bonn, N. A., Fischer, A., Kashem, I. F., & Raz, A. (2013). Using suggestion to modulate automatic processes: From Stroop to McGurk and beyond. Cortex, 49, 463– 473. doi:10.1016/j.cortex.2012.08.007


* Die Einschränkung „bis zu einem gewissen Grad“ bezieht sich auf methodologische Schwächen der Versuchsdesigns dieser und ähnlicher Studien. Wenn du dich für die genauen Hintergründe interessierst, schicke ich dir gern Infos zu.

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