Depression – wenn der albanische Adler das Fliegen verlernt

„Es ist schön, depressiv zu sein.“ Ich bin in Seattle, habe gerade mal eine halbe Stunde Zeit, bevor ich wieder zurück zum Flughafen muss. Ich sitze in einem gemütlichen Ledersessel in Mark Jensens Büro. Ich muss grinsen, als er den Satz wiederholt. „Es ist wirklich schön, ab und zu depressiv zu sein.“

Nachdem ich mich von Mark verabschiedet habe, zunächst sein Büro und dann das Gebäude verlasse, hänge ich diesem Satz noch hinterher. Warum ist das so? Was sorgt dafür, dass dieser Satz so sehr in meinem Kopf zurückbleibt? Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Er repräsentiert all das, was mein Glaubenssystem bisher nicht als Wahrheit zugelassen hat.

„Ich darf das so nicht tun.“ – Wenn ein Gedanke zum Symptom wird

Depression symbolisiert die Krankheit der „Losigkeit“. Depression macht antriebsLOS, schlafLOS, motivationsLOS. Gleichzeitig spielen Schuld und Scham eine große Rolle in der Entwicklung von depressiven Episoden. Ein häufiges Muster, das sich findet, sind „sollen“ und „dürfen“ Sätze. Zum Beispiel: „Ich sollte mich zusammenreißen können und nicht wütend werden.“ oder aber „Ich habe das Gefühl, mich nicht aufregen zu dürfen in dieser Situation.“

Also gut. Depression als Krankheit der Losigkeit, der Scham und der Schuld also. Zumindest habe ich das so treuherzig im Vorlesungssaal kennengelernt. Was aber, wenn wir, allein dadurch, dass wir Depression als Krankheit, und damit als nicht okay abtun, dem Heilungsprozess im Weg stehen? Was, wenn Depression potenziell die Macht der Gewohnheit ist? Und wenn ich gewagt noch einen Schritt weiter gehe, unter Umständen sogar einen Schutzmechanismus darstellt?

Die Suche nach Antworten auf diese Fragen leitete mich auch zur Frage der eigenen Identität. Die Identität als Mensch in einer Kultur, die bestimmte Erwartungen an mich stellt. Die Identität als deutsche Kosovarin oder kosovarische Deutsche, geboren und aufgewachsen in Deutschland. Ich bin in Deutschland zur Schule gegangen. Habe hier lesen und schreiben gelernt. Habe auf den Straßen von Stuttgart das erste Mal - ganz ohne Stützräder - meine Fahrrad-Pedale getreten.

Was hat Identität mit Depression zu tun?

Was stellt Identität denn nun dar? Identität beginnt mit einer durch das soziale Umfeld initiierten Auto-suggestion. Wir werden in bestimmte Schichten geboren. Jede sozioökonomische Schicht hat bestimmte Glaubenssätze.

Ein wohlhabender Mensch mag denken: „Mir steht mein Wohlstand zu, mein Großvater hat hart dafür gearbeitet.“ Eine heimatsuchende Person mag denken: „Ich bin dankbar, wenn ich überhaupt einen Arbeitsplatz erhalte, auch wenn die Bezahlung so niedrig ist, dass ich meine Familie knapp über den Monat bringen kann.“ Das ist ein Gedanke. Ein Gedanke, der von Menschen kreiert wurde. Diese Gedanken sind grundverschieden und zeichnen sich im alltäglichen Leben ab.

Sagen wir, der wohlhabende Mensch und der Mensch mit einer neuen Heimat beschließen, eine Familie zu gründen. Was wird wohl der wohlhabende Mensch seinen Kindern erzählen? Und was wird der Mensch mit einer neuen Heimat seinen Kindern erzählen?

Die Geschichten, die unsere Eltern uns erzählen, prägen und begleiten uns. Sie werden zu unseren Glaubenssätzen und teilweise auch zu einem Teil von uns. Wenn ein Kind mit Migrationshintergrund hört, dass es viel arbeiten muss, um erfolgreich zu sein, dann ist es zunächst eine wertvolle Ressource. Was aber, wenn der Glaubenssatz lautet, dass das Leiden zum täglichen Leben dazugehört?

Shala et al. haben 2020 eine Studie veröffentlicht, in der sie die kulturelle Konzeptualisierung von Stresssituationen bei Menschen mit albanisch-kosovarischem Hintergrund untersuchten. Der Titel beinhaltet die albanische Redewendung „Einen Punkt im Herzen haben“ (frei aus dem Englischen übersetzt, Originaltitel: A point in the heart: Concepts of emotional distress among Albanian-speaking immigrants in Switzerland“) und ist aus meiner bilingualen Sicht zur Konzeptualisierung von Stress bei Albanisch-Sprechenden sehr aussagekräftig.

Einen Punkt im Herzen haben bedeutet im albanischen Sprachgebrauch, dass man eine Situation als schwierig erlebt hat und dass der damit verbundene emotionale Schmerz nicht losgelassen werden kann.

In den semi-strukturellen Interviews kamen die Autoren zu dem Entschluss, dass das Erleben in diesen Kulturkreisen anders ausfällt und dass dieses Erleben an die Identität als Migrant gebunden war.

Das Interessante ist, dass das erlebte Stressempfinden mit der Migration in die Schweiz verbunden war. Soziale Probleme und ein großer Wandel im Leben wurden als Startpunkt der meisten Probleme ausgemacht. Die häufigsten Stressbewältigungsstrategien bestanden aus Eigeninitiative und sozialer Unterstützung. Leiden wurde dabei als Teil des Lebens gesehen und dieses Leiden müsse mit Geduld ausgehalten werden. Wenn das Leiden Teil der kulturellen Identität ist, was ist dann die Lösung?

Leid als Teil der kulturellen Identität?

Hypnotherapie being Bad-Ass – Ein Lösungsansatz 😊

Wenn Leiden als kulturelles Konzept tief in unserer Identität verankert ist, dann ist es nicht weit gefehlt zu behaupten, dass das Leiden für jeden Menschen Teil der eigenen Identität werden kann. Wenn nun also Leiden zum Teil einer kulturellen Identität geworden ist, und dieses emotionale Leiden zu Depressionen führt, dann lässt sich daraus schließen, dass die Veränderung der Depression nur dann möglich ist, wenn eine Veränderung der Identität stattfindet.

Doch wenn es einem schon emotional nicht gut geht, wie hoch ist dann die Bereitschaft, seine Identität zu ändern?

Die Lösung findet sich in einem der Grundpfeiler der Hypnotherapie, dem sogenannten Tailoring. Dan Short hat in seiner Arbeit über die Grundprinzipien der Ericksonianischen Hypnotherapie das Tailoring (engl. für maßschneidern, schneidern) als eines der Hauptfaktoren identifiziert.

Jeder Schneider passt sein Kleidungsstück maß getreu für jeden einzelnen Klienten an. Er holt den Klienten und die Klientin dort ab, wo er oder sie sich gerade befindet. Wenn eine Klientin einen dunkelblauen Hosenanzug bestellt, würde der Schneider nicht auf die Idee kommen, der Klientin vorzuschlagen, lieber ein rotes Kleid in Auftrag zu geben. Analog zum Bild des Schneiders, ist eine Therapie-Sitzung genau dann besonders erfolgreich, wenn die Klientin dort abgeholt wird, wo sie steht.

Wenn Leiden als Konzept der Identität gesehen wird, reicht es nicht aus, den Glaubenssatz „Leiden gehört zum Leben dazu.“ infrage zu stellen. Denn dieser Glaubenssatz ist über mehrere Jahrhunderte hinweg Teil einer kulturellen Identität geworden. Erst wenn ich bereit bin, meine Klientin anzunehmen, kann dies langfristig zu einem Therapie-Erfolg führen. Analog zum Schneiderbeispiel heißt das, dass ich bereit sein muss, den dunkelblauen Hosenanzug zu schneidern. In Erwägung zu ziehen, dass das Leiden in Kulturkreisen wie der kosovarischen Kultur nicht zum Leben dazugehört, wäre analog zum Anbieten des roten Kleides.

Sie ist Teil ganzer Generationen und kann sich nicht von heute auf morgen durch das alleinige Infragestellen in Luft auflösen. Erickson bietet hier aber zum Glück Abhilfe: Die Frage ist nicht, ob Leiden gut oder schlecht ist. Leid darf sein. Es ist schmerzhaft und vielleicht sogar angebracht in manchen Situationen. Darf man aber gleichzeitig auch manchmal Freude empfinden und den Moment genießen?

Bereits 1992 haben Burns und Nolen-Hoeksema gezeigt, dass bei dem Heilungsprozess therapeutische Empathie einen kausalen Einfluss auf den Verlauf von Depressionen hat. Das heißt, dass auch bei technisch einwandfreier Therapie, die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung zwischen Therapeut:in und Klient:in einen substantiellen Einfluss auf die klinische Affekt-Entwicklung hat. Etwa 45% aller im Kosovo lebenden Menschen leiden unter einer psychiatrischen Auffälligkeit (Fanaj, 2020).

Schätzungen zufolge gilt das auch für die in der Diaspora wie z.B. Deutschland oder der Schweiz lebenden aus dem Kosovo stammenden Mitbürger und Mitbürgerinnen. Das Konzept des Tailorings nach Erickson bietet hier einen Ansatz, der Empathie der Therapeutin mit den Bedürfnissen der Patientin vereinigt. Nur wer bereit ist, den Auftrag des dunkelblauen Hosenanzugs anzunehmen, kann das Leiden als Teil einer kulturellen Identität akzeptieren. Nur durch diese Akzeptanz der kulturellen Identität wird das Maßschneidern der therapeutischen Intervention möglich und können neue lebensdienliche Strategien gemeinsam erarbeitet werden. Erst wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann die Botschaft aus Seattle in die Herzen der kosovarisch-stämmigen Mitbürger:innen getragen werden: „Es ist schön, depressiv zu sein.“

Autorin: Kaltrina Gashi

Kaltrina studierte Psychologie an der Eberhard Karls Universität in Tübingen und wurde für ihre Bachelorarbeit im Jahr 2019 mit dem Nachwuchsförderpreis der Milton Erickson Gesellschaft ausgezeichnet. Zurzeit studiert sie Humanmedizin in Homburg (Saar). Als Praktikantin lernte sie in Rottweil die Grundlagen der Hypnotherapie und ihre Anwendung in der Familien-, Kinder- und Jugendpsychotherapie kennen.

Weiterführende Literatur:

Burns, D. D., & Nolen-Hoeksema, S. (1992). Therapeutic empathy and recovery from depression in cognitive-behavioral therapy: a structural equation model. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 60(3), 441

Shala, M., Morina, N., Gross, C. S., Maercker, A., & Heim, E. (2020). A point in the heart: Concepts of emotional distress among Albanian-speaking immigrants in Switzerland. Culture, Medicine, and Psychiatry, 44(1), 1-34.

Morina, N., Rushiti, F., Salihu, M., & Ford, J. D. (2010). Psychopathology and well‐being in civilian survivors of war seeking treatment: a follow‐up study. Clinical Psychology & Psychotherapy: An International Journal of Theory & Practice, 17(2), 79-86.

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