„Joker“: Was sich aus psychotherapeutischer Sicht sagen lässt

Als ich zusammen mit den anderen Kinobesucher*innen den Saal verließ, sah ich einige mitgenommene Gesichter. Fast fühlte ich mich etwas erleichtert: Ich war nicht der einzige, den der Film "Joker" bewegte. Doch was genau löste der Film bei Zuseher*innen aus? Und was lässt sich aus psychotherapeutischer Sicht über den Film sagen?

Bevor du weiterliest hier noch eine SPOILER Warnung: Ich gehe davon aus, dass du den Film schon gesehen hast, wenn du den Artikel liest. Im Artikel werde ich auf einige Wendungen des Films Bezug nehmen.

Joker handelt von einem Protagonisten mittleren Alters, der zusammen mit seiner pflegebedürftigen Mutter in der düsteren Stadt Gotham lebt. Durch eine Reihe an ungünstigen Umständen, Entscheidungen und Einsichten entwickelt sich Arthur Fleck sukzessive zum Joker – einem skrupellosen, mordenden Antihelden.

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Der Film kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: aus einer gesellschaftspolitischen, soziologischen, psychiatrischen aber auch aus einer psychotherapeutischen Sicht. Wenngleich viele dieser Perspektiven wirklich spannend sind, konzentriert sich dieser Artikel vor allem auf einige psychotherapeutisch relevante Aspekte des Films.

Welche sind das also?

Innerpsychische Gewalt

“Happy, did you check the postbox?” begrüßt ihn seine Mutter, als er anfangs von einem Gig als Clown nach Hause kommt. 

"Hat sie Arthur gerade Happy genannt?" Ich runzelte die Stirn, denn fröhlich war Arthurs Tag gewiss nicht gewesen.

Ganz im Gegenteil – im ersten Drittel des Films sieht man Arthur vor allem als Opfer:

  • Schläger überfallen ihn. 
  • Sein Chef zieht den Gegenwert des zerstörten Schildes von seinem Gehalt ab. 
  • Ein Kollege steckt ihm eine Pistole zu und hintergeht ihn später.

Dann die erste Wende: Arthur wurde gerade gefeuert. Man sieht ihn in einem fast leeren U-Bahn Wagon sitzen. Drei Männer pöbeln im Zug eine Frau an und Arthur beginnt unkontrolliert zu lachen. Die Männer wenden sich ihm zu; fragen ihn, was denn lustig sei und beginnen dann auf ihn einzutreten. Wie am Anfang liegt er wieder hilflos am Boden. Es hagelt Tritte und Schläge aus allen Richtungen.

Diese Ungerechtigkeit – als Zuseher war es kaum auszuhalten. Warum wehrt er sich nicht? In diesem Moment erschallen zwei Schüsse aus Arthurs Pistole und zwei der Angreifer fallen tot um. Der Dritte versucht zu entkommen, doch Arthur verfolgt ihn und schießt ihn kaltblütig tot. 

Es ist nicht schwer, sich in Arthur einzufühlen. Er ist alleine und isoliert, die Stadt ist grau und düster, niemand versteht seine Krankheit, geschweige denn kann damit umgehen. Die Förderungen für Sozialeinrichtungen wurden gestrichen und da scheint niemand zu sein, der ihn in dieser traurigen Realität respektiert, so wie er ist. 

Noch nicht einmal seine Mutter. Oder besonders nicht seine Mutter. Denn diese trichterte ihm schon früh ein, dass man immer glücklich sein sollte. Happy war ihr Spitzname für Arthur. “Put on a happy face” wurde später auch das Motto des Jokers.  

joker psychologie

Wir leben in einer Gesellschaft, in der es als Scheitern angesehen wird, wenn man nicht glücklich ist.

Viele Selbsthilfe Bücher befeuern diesen Trend: Die Glücksformel; der glücklichste Mensch der Welt; Positivity und das sogenannte “Positivitäts-Verhältnis” das besagt, dass man ein bestimmtes Verhältnis an positiven zu negativen Gefühlen haben sollte. Was ist, wenn ich ein “schlechtes Verhältnis” von positiven zu negativen Gefühle habe? Bin ich dann nicht in Ordnung? Mache ich dann etwas falsch?

Das Buch The law of attraction, vertritt die These, dass du anziehst, woran du denkst. Und das stimmt natürlich auch teilweise. Worauf man sich konzentriert, das wird größer. Doch was wir oft vergessen, ist, dass sogenannte “negative Empfindungen”, wertvolles Feedback unseres Organismus sind: Nämlich über anerkennenswerte Bedürfnisse, die gerade nicht erfüllt sind.

Ich schreibe “negativ” in Anführungszeichen, weil der Kern dieser Thematik darin liegt, überhaupt in negative und positive Gefühle zu unterscheiden. Diese Unterscheidung führt dazu, dass “negatives Erleben” abgewertet und verdrängt wird. Und diese Abwertung ist eine Form der innerpsychischen Gewalt. Anfangs kommen viele Klient*innen in hypnotherapeutischen Praxen mit dem Auftrag “negatives Erleben wegzuhypnotisieren". Sollte man den Auftrag annehmen, würde man die unerwünschte Symptomatik nur stärken.

Hinzu kommt nämlich, dass wir unsere Gefühle nicht kontrollieren können. Ein Gefühl auf längere Zeit unterdrücken zu wollen, kommt dem Versuch gleich, sich einem Pferd entgegenzustellen, das auf den Abgrund zu galoppiert: Es reitet dich nieder. 

Je mehr wir also versuchen, negative Gefühle zu kontrollieren und zu leugnen, desto stärker werden sie. Der Teufelskreis ist perfekt.

Zurück zum Film: Die innerpsychische Gewalt gegen Arthurs eigenen “negativen” Gefühle und Gedanken, wandelte sich im Lauf des Films immer mehr zu einer äußeren physischen Gewalt an andere. Denn diese gab ihm etwas, was er schon lange nicht mehr fühlte:

Macht und Hilflosigkeit

Nach seiner ersten Gewalttat sieht man Arthur im öffentlichen WC tanzen. Im Gegensatz zu früheren Tanz-Szenen ist sein Tanz jetzt ausdrucksstärker und enthemmter. Wahrscheinlich fühlt Arthur nach seiner vollständigen Hilflosigkeit, das erste Mal ein Gefühl von Macht und Kontrolle. Und dieses treibt jetzt die Entwicklung zum Joker voran. 

Unter solchen tragischen Umständen wie dem Unrecht auf seiner Arbeit, der Gewalt auf der Straße, den gesellschaftlichen Stigmata und Normen, wie er zu sein habe, fiel der Samen der Gewalt auf fruchtbaren Boden. Arthur war den größten Teil seines Lebens ein Opfer, jetzt wurde er zum Täter und fühlte sich dadurch mächtig und wirksam.

Joker ein alternatives Ende?

War die Entwicklung zum Joker Arthurs einziger Weg aus seiner Misere? Wie hätte Arthur unter diesen Umständen noch Macht, Kontrolle und Selbstwirksamkeit erleben können?

Wenn im Film ein Aspekt/Narrativ untergeht, dann ist das unsere persönliche Entscheidungsfreiheit. Niemand kann kontrollieren, was einem widerfährt, wie fair oder unfair die Gesellschaft einen behandelt. Doch was wir kontrollieren, ist wie wir darauf reagieren – wie wir uns in der Welt sehen. Das entschuldigt allerdings auch nicht untragbare, gesellschaftspolitische Zustände.

So viel Empathie man auch für die Umstände Arthurs haben kann, so sehr muss man auch klar feststellen, dass es letztlich seine Entscheidungen sind, die ihn zum Joker machen und er dafür Verantwortung trägt.

Fazit

Im Grunde zeichnet der Film Joker eine Dystopie: Mangelnde Sozialleistungen, eine gespaltene Gesellschaft, stigmatisierender Umgang mit psychischen Erkrankungen, kombiniert mit der innerpsychischen Dynamik und traumatischen Biografie des Protagonisten bereiten den Boden für den Antihelden Joker. Seine Wahl: Rache und Chaos.

Animiert der Film zu Gewalt? Die Gewaltdarstellungen im Film sind brutal, doch brutale Filme gibt es mittlerweile zuhauf. Mehr als das ist der Film verstörend. Überleg dir, ob du dich dem aussetzen möchtest. In der ersten Hälfte entwickelt man Mitleid und Mitgefühl für einen einsamen Mann am Rande der Gesellschaft. Man fühlt Erleichterung, als er beginnt sich zu wehren. Doch schnell ist eine Grenze überschritten und der Erleichterung weicht Grauen und Schock. 

There’s a point where he crosses the line where I am no longer able to stick by his side. Joaquin Phoenix IndieWire

Am Ende blieb ein bitteres Gefühl. Der Gang aus dem Kinosaal glich einem Erwachen aus einer Horror-Trance. Doch wozu diese Horror-Trance meiner Meinung wirklich animiert, ist unseren Zugang zu unserem inneren Erleben und Gefühlen zu hinterfragen. Außerdem: Verantwortung zu übernehmen, uns selbst und anderen mit Respekt zu begegnen, um eine inklusive Gesellschaft zu schaffen, die sich für die Würde und Rechte aller einsetzt.

Was denkst du über den Film Joker?

Autor: Raphael Kolic

Raphael bloggt seit Mitte 2018 für die Milton Erickson Gesellschaft für klinische Hypnose. Er macht gerade selbst die Ausbildung zum Psychotherapeuten. In Heidelberg, Wien und Hamburg hat er das Curriculum klinische Hypnose als Praktikant durchlaufen. Ein paar seiner vergangenen Projekte sind unter anderem der Blog no-right-no-wrong.com und sein Buch: Achtsame Selbsthypnose.

  • Aldo sagt:

    Ein wichtiger Aspekt ist der Gedanke, dass es in Wirklichkeit positiv ist, wenn man ein „negatives“ Gefühl annimmt und etwas negatives, wenn man einem positiven Gefühl hinterher jagt: Das 1. kennzeichnet nämlich einen Zustand von innerer Gelassenheit und das 2. einen Zustand des Mangels.

  • Marion sagt:

    Exakt so habe ich den Film erlebt- auch und gerade in emotionaler Hinsicht und Deine Analyse teile ich voll und ganz. Auch was die Verantwortlichkeit von Arthur angeht. Er externalisiert sehr stark, was ein Hinweis auf eine narzisstische Grundstörung sein könnte- es fängt damit an, dass er die Pistoile rigoros hätte zurückweisen können. Aber nach kurzem Aufbegehr behält er sie und das zeigt, dass er dem gewalttätigen Agieren- so diffus das zu dem Zeitpunkt noch gewesen sein mag- bereits nicht mehr abgeneigt war. Obwohl ich den Film sehr nüchtern analysieren kann, übt er auf mich bis heute- 5 Monate nach dem ersten Sehen- eine unglaubliche Sogwirkung aus. Ich habe ihn 6 x geguckt (und ich weiß, dass Viele es noch hundert Mal häufiger tun) und ich bin regelrecht „süchtig“ nach den einzelnen Zitaten und Szenen. Ich denke, das liegt daran, dass er einen zentralen Punkt in unser aller Leben beschreibt: negative Gefühle, Enttäuschung, Ohnmacht: das kennen wir Alle, das begegnet uns mehr oder weniger häufig und wir Alle tragen irgendeine Ohnmacht mit uns herum, die uns insgeheim negativ beherrscht. Eine verletzte Liebe, ein Nicht- Gehaltserhöhung, Kränkungen jedweder Art. Und insgeheim träumen wir vielleicht Alle ein bisschen davon, diese Ohnmacht in Macht umwandeln zu können. Nicht unbedingt in Gewalt wie Arthur, aber in Kontrolle und Stärke. Unverwundbarkeit.

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