Warum wir scheitern, wenn wir gegen die Angst ankämpfen

„Wir müssen die Angst besiegen!“; „…in diesen schweren Zeiten, gegen die Angst kämpfen...“

So oder so ähnlich liest sich gefühlt jeder Artikel, zum Umgang mit unseren Gefühlen, Sorgen und Nöten in schwierigen und anspruchsvollen Zeiten. So auch jetzt, in Zeiten von COVID-19. Wenn ich solche Artikel oder Überschriften lese, komme ich nicht umhin die Stirn zu kräuseln und mich zu ärgern. Was auf den ersten Blick als hilfreich daherkommt, ist eigentlich das Gegenteil davon; es ist arg kontraproduktiv im Umgang mit uns selbst. Denn: wie wir mit unserer Angst umgehen, das ist wie wir mit uns selbst umgehen.

Der Kampf gegen unsere Angst ist ein Kampf gegen uns selbst

Es ist nicht hilfreich so zu tun, als sei „die Angst“ etwas im Außen, ein Fremdkörper, der nicht zu uns gehört. Unsere Angst ist Teil unserer Selbst, ein sehr wichtiger Teil sogar. Ohne unsere Ängste wären wir alle längst gestorben: Wir gingen selbstverständlich über rote Ampeln oder spazierten angstfrei an steilen Klippen entlang. Wir würden uns ohne Um- und Vorsicht durch diese Welt bewegen, die – seien wir ehrlich – auch ohne COVID-19 keine ganz ungefährliche ist.

Wir alle sind Nachfahren von Angsthasen und Angsthäsinnen. Wären unsere Vorfahren nicht vorsichtig gewesen, weil sie Angst hatten von einem Baum zu fallen, sie wären zu Tode gestürzt. Hätten sie nicht Angst gehabt in einer Höhle den Ausgang nicht rechtzeitig zu finden, wenn ein Bär den Eingang versperrt, sie wären gefressen worden. Wäre es ihnen nicht wichtig gewesen dazuzugehören und nichts Unangemessenes oder peinliches zu machen, sie wären von der Gruppe ausgeschlossen worden und hätten sich allein in der Steppe durchschlagen müssen. Wären sie nicht vorsichtig gewesen, sie wären also zu Tode gestürzt, von Bären verputzt, allein jämmerlich verhungert, eben einfach gestorben. Hätten unsere Vorfahren keine Angst gehabt, dann gäbe es uns nicht!

Es hat sich also über 2,8 Millionen Jahre Evolution ein sehr kluges Warnsystem innerhalb des menschlichen Körpers entwickelt, das uns auf potenzielle Gefahren hinweist und uns kampf- oder fluchtbereit macht. Dieses Super-Warnsystem besteht z.b. aus einem erhöhten Herzschlag, Gänsehaut, Erröten und  schwitzigen Händen, dem Gefühl pinkeln zu müssen oder „Schiss zu bekommen“.

Ich könnte mir die Finger wund tippen an all den schönen Tricks, die unser Körper auf Lager hat, um uns auf Gefahren aufmerksam, kampf- oder fluchtbereit zu machen.

All das ist nicht etwa ein „Es“ im Außen, das man einfach abschütteln und loswerden könnte, sondern Teil von uns. Und das ist gut so. Meine Angst, die bin auch ich. Wer sind wir, dass wir glauben gegen 2,8 Millionen Jahre Evolution anzukommen, geschweige denn diese überwinden oder besiegen zu können?

Die drei Botschaften

Es gibt drei grundlegende Botschaften in Bezug auf unsere Angst.

1. Gedanken lassen sich nicht verbieten.

Das kennst du: Unser Gehirn kennt keine Verneinung. Jeder hat schon einmal vom Bild des rosa Elefanten gehört. Wenn ich sage, versuche aktiv nicht an einen rosa Elefanten zu denken; so sehr du es versuchst, es wird dir nicht gelingen. Du kannst dir nicht aktiv denkend verbieten etwas zu denken.

Das führt direkt zu:

2. Wenn Du etwas stärken willst, bekämpfe es.

Denn je mehr du versuchen wirst, aktiv nicht an einen rosa Elefanten zu denken, desto weniger wird es dir gelingen. So ist es auch mit deiner Angst. Je mehr du versuchst sie loszuwerden, sie nicht da haben willst, desto stärker wird sie. Deine Angst ist wie eine gute Freundin, die dich auf etwas Wichtiges hinweisen will. Eine gute Freundin, die immer wieder sagt: „Jetzt schreib endlich diesen MEG Artikel fertig, der dir so wichtig ist!“ Wenn sie eine gute Freundin ist, dann wird sie nicht aufhören das zu sagen, sie wird sogar eher lauter werden. Unsere Angst ist eine sehr gute Freundin. Sie wird also nur lauter werden, je mehr wir sie versuchen loszuwerden oder ignorieren.

3. Es gibt keinen Unterschied zwischen vorgestellter und realer Angst.

Unsere Nervenzellen können nur feuern oder nicht feuern. Schwanger oder nicht schwanger, aber nicht ein bisschen schwanger oder halb schwanger. Wie bei einem Computer (1 und 0) gibt es bei uns nur an oder aus, Gefahr oder nicht Gefahr. Es macht für unser Gehirn also keinen Unterschied, ob wir an eine mögliche Bedrohung durch einen Tiger nur denken, oder ob dieser Tiger vor uns steht. Mögliche Bedrohung ist mögliche Bedrohung, egal ob real oder imaginiert.

​Egal ob real oder imaginiert​: Monster bleibt Monster

Kontrolle vs. Vertrauen

Bei dem Thema Angst geht es vor allem um die Unterscheidung zwischen Kontrolle und Vertrauen. Der Versuch Dinge zu kontrollieren, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, führt automatisch zu einem Gefühl von Kontrollverlust, Angstsymptomen und -gefühlen. Das wiederum führt zu dem Versuch noch mehr kontrollieren zu wollen (was noch immer nicht geht) und am Ende zu der Angst vor Kontrollverlust. Plötzlich haben wir Angst vor der Angst. Und aus dem Versuch der Kontrolle über unsere Gefühle und Körperreaktionen wird ein erbitterter Kampf gegen uns selbst. 

Was ist also die Alternative? Die Alternative zu Kontrolle ist Vertrauen. Vertrauen in dich selbst und in dich selbst in der Welt. Versteh mich nicht falsch, es geht nicht darum blind zu vertrauen, dass am Ende alles gut wird. Es geht darum darauf zu vertrauen, dass wie auch immer es werden wird, du damit umgehen kannst. So oder so. Manchmal wird es scheiße und tut furchtbar weh. Und dennoch: Du hast alles, was du brauchst, um damit umgehen zu können. Manchmal wird es wunderbar, und manchmal wird es eben einfach. 

Als Gandalf den Hobbit Bilbo Beutlin bittet ihn auf sein Abenteuer zu begleiten, fragt ihn Bilbo, warum Gandalf gerade ihn auswählen würde. Es gäbe doch viel Größere und Stärkere und demnach viel Tauglichere die Gandalf an seiner Stelle zur Seite stehen könnten. Gandalf antwortet, dass genau dies der Grund sei, aus dem er gerade Bilbo fragen würde; er bräuchte jemand Mutiges. Die Voraussetzung, um mutig zu sein ist Angst haben zu können.

Es braucht Angst, um mutig sein zu können

Alles eine Frage der Haltung?

Worum geht es also? Es geht um eine alternative Haltung deiner Angst gegenüber. Nimm sie mit, nimm sie an die Hand als einen Teil von dir. Geh raus aus der Kampfbeziehung hinein in eine Freundschaftliche (im Profimodus vielleicht sogar in eine Liebesbeziehung...). Und was auch immer du tust, damit es dir in diesen und anderen Krisenzeiten besser geht, tu es für dich und für deine Angst. 

Geh liebevoll mit Deiner Angst um, denn sie ist Du. Und Du kannst Dir wert sein freundlich zu Dir zu sein.

Mach Yoga, geh laufen, koche lecker für dich, um dir und deinen Gefühlen etwas Gutes zu tun und nicht, um etwas loszuwerden, zu besiegen oder auszumergeln. Hört die Selbstfürsorgetrancen FÜR dich nicht GEGEN etwas. Das klappt nicht zu 100% von heute auf morgen, auch ich durfte diese Lektion mehrfach frustriert lernen. Falls doch, melde dich gern, dann bringen wir dich groß raus! 😉

Ich bin keine Freundin von unumstößlichen „Wahrheiten“ und empfehle dir diese Haltung und alles in diesem Artikel gründlich zu prüfen und kritisch zu lesen; doch in meiner Erfahrung ist das die beste Chance, langfristig einen guten Umgang mit sich selbst und den Bedrohungen der Welt zu finden: Die Haltung zu der eigenen Angst verändern, das Schlachtfeld verlassen und sie freundschaftlich einladen, mitzukommen.

Das gilt in meiner Arbeit zum Thema Prüfungsangst genauso, wie in der Arbeit im Elternhaus für das krebskranke Kind in Göttingen. Das Leben ist nicht immer schön, eine Krise macht keinen Spaß und manche Bedrohungen sind so krass, dass es furchtbar ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber ich glaube, es ist der einzige Weg.

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Kurzfilm über die Schätze, die sich mit Mut bergen lassen

Eine gute Freundin gab mir vor einem Vortrag einmal das Bild mit, dass mein vor Aufregung wild pochendes Herz mir applaudieren würde. Mein Herz, das dafür applaudiert, dass ich so mutig bin, etwas zu tun, obwohl es gefährlich ist und ich mich maßlos blamieren könnte. Frei nach Eleanor Roosevelt „Tue jeden Tag etwas vor dem Du Angst hast“. Denn das sind oft die magischen Momente, in denen das Verrückteste und Abgefahrenste passiert.

Es ist diese liebevolle Beziehung zu der eigenen Angst, die es erlaubt die Angst auch mal Angst sein zu lassen. Sie macht es möglich Handeln nicht nur nach Angst auszurichten und sich nicht mehr zu verkriechen. Sie ermöglicht Leichtigkeit und Lust im Umgang mit den eigenen Gefühlen und den Aufgaben des Lebens. So wird es möglich das Herzwummern beim Vortrag mitzunehmen als ein Zeichen dafür, dass gerade etwas Aufregendes und Wertvolles passiert! 

Ein Gruß geht an Bernd Schumacher, dem ich diese Haltung zu verdanken habe und an dieser Stelle für eine sehr knackige und hilfreiche systemische Ausbildung danken mag!

Autor: Chawwah Grünberg

Chawwah arbeitet in der psychosozialen Nachsorge im Elternhaus für das krebskranke Kind in Göttingen und studiert nebenbei in Kassel im Master Klinische Psychologie und Psychotherapie. Ihre Weiterbildungen in systemischer Therapie und Beratung hat sie in Heidelberg gemacht und absolviert aktuell Module am Deutschen Institut für Provokative Therapie. Außerdem spielt sie leidenschaftlich gern Theater und hat schon ein paar Jahre als Theaterpädagogin auf ihrem (29 Jahre jungen) Buckel.

  • Eli sagt:

    So ein toller und wertvoller Beitrag! Danke fürs teilen. Die Metapher mit dem applaudierenden Herz finde ich klasse! Das macht mir Mut.

  • Anika sagt:

    Danke für den Beitrag! Ich kämpfe schon sehr lange gegen Angst.. und der Artikel baut einem echt auf! (:

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