Brennende Weihnachtsbäume, Zitronenkuchen und Viagra: Worauf es an den Feiertagen wirklich ankommt

Es ist endlich wieder so weit: Weihnachtszeit. Die November-Floskeln ändern sich zu Dezember-Floskeln und aus „Könnt Ihr es glauben?! Es gibt schon Weihnachtsgebäck im Supermarkt“ wird „Könnt Ihr es glauben?! Bald ist schon wieder ein Jahr rum“. Es ist endlich wieder so weit: Die Lebkuchen in den Geschäften haben ihre Daseinsberechtigung erlangt und die Menschheit scheint sich auf eine kollektive Harmonie Trance geeinigt zu haben.

Aufgewachsen in einer Familie, die Weihnachten nicht feiert, verbrachte ich den 24. Dezember entweder vor dem heimatlichen Fernseher oder als Kuckuckskind bei den Familien meiner Freundinnen und Freunde. Ich kam also im Laufe meines bisherigen Lebens in den Genuss, viele verschiedene Versionen des familiären Weihnachten-Feierns zu erleben.

Weihnachten in der Theorie.

Weihnachten: Der schönste Abend des Jahres, an dem die ganze Familie endlich mal wieder zusammenkommt und alle sich lieben. Doch mit der Liebe kommt auch der Sturm. An den Feiertagen prallen unterschiedliche Wünsche, Bedürfnisse und auch Ansprüche aufeinander und die Harmonie bekommt starke Gegenspielerinnen: die kleineren und größeren familiären Streitigkeiten. Hier und da geht etwas schief und es muss vom heiligen Plan abgewichen werden.

Perfekte Weihnachten

Wer im normalen Leben kocht, kocht an Weihnachten perfekt: Das 42-Gänge-Menü und alles muss köstlichst schmecken. Alle müssen sich verstehen, auch wer sich im normalen Leben über Greta Thunbergs Bahnfahrt die Köpfe einschlägt. Selbst kleinste Fehler im Ablauf werden hart bestraft! Zurecht, will ich meinen, sie gefährden schließlich den reibungslosen Ablauf des Abends auf den seit Monaten hingearbeitet wird.

Im Weihnachtsstress die Kekse im Ofen vergessen.

Mein schlimmster Weihnachts-Fauxpas ereignete sich, als ich einmal mit dem Jüngsten einer Familie die Tür zur Bescherung öffnete, bevor seine Mama mit dem Blockflöte-spielen fertig war. Wir zwei waren vor die Tür verbannt, während die Erwachsenen drinnen die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum verteilten. Das Erklingen der Blockflöte hatte ich als den Beginn der Bescherungszeremonie interpretiert. Grober Fehler! Die Darbietung hätte nämlich in ihrer Gänze abgeschlossen sein müssen. Ups. Das Spiel einer Blockflöte zu unterbrechen würde ich für das wohl Liebevollste halten, das man sich selbst und anderen tun kann. In meinem Fall mussten wir aber nochmal raus und das Ganze begann in seiner umfassenden Schönheit von vorn.

Das ist sie, die Krux an dieser kollektiven Harmonie-Trance. Sie ist eigentlich vor allem eines: stressig! Denn die Nummer geht nicht auf, sie ist zum Scheitern verurteilt. Wenn pure Harmonie im Fokus steht und alles perfekt sein muss, dann sind Anspannung und Enttäuschung vorprogrammiert.

Eine Freundin beschrieb mir sehr lebhaft die vollkommen gestresste Weihnachtsversion ihrer Mutter, die im Gegensatz dazu im normalen Leben die Ruhe selbst zu sein scheint. „Alles soll perfekt sein“ sei ihr Motto zu Weihnachten.

Gibt es nur einen perfekten Weg, dann ist alles, was von diesem Weg abweicht zwangsläufig falsch. Und somit automatisch stressig.

Allein das Weihnachtsessen scheint eine beinahe unlösbare Monsteraufgabe: vegan, vegetarisch, Gluten- und Laktosefrei, doch auch ein wenig Fleisch für die Karnivore darf am Tisch nicht fehlen. Dabei brennt schon einmal die eine oder andere Sicherung durch. Oder noch schlimmer: Der Stress entlädt sich durch Bitterkeit und passive Aggression.

Viagra und der brennende Weihnachtsbaum

Worauf legen wir unseren Fokus an den Feiertagen, worauf verwenden wir unsere Energie? Wollen wir einen perfekten Abend haben ohne ungewollte Zwischenfälle? Möglich ist das. Doch vielleicht ist das nicht nur stressig, sondern dazu auch noch langweilig und unlebendig. 

Sind nicht die besten Partys die spontanen; an denen alles schiefgeht und improvisiert werden muss? 1996 hatte Viagra als Mittel gegen hohen Blutdruck versagt, bei Männern dafür aber unerwartet zu Erektionen geführt. So hat es dann als Potenzpille den Markt erobert. Der erste Herzschrittmacher entstand durch einen Fehler; und eine meiner liebsten Weihnachtserinnerung ist die eines brennenden Weihnachtsbaums mit einer verblüfften, erst sehr panischen und dann sehr lockeren Stimmung. Schlimmer konnte es nämlich nicht mehr kommen. Keine Sorge, dem Feuerchen konnte schnell Einhalt geboten werden, doch der Geruch blieb und Räuchermännchen waren für den Rest des Abends nicht mehr nötig.

Ups, ich habe das Weihnachtsmenü fallen lassen

Dazu passend eine kleine, nicht so klassische Weihnachtsgeschichte: Massimo Bottura ist Chefkoch des Osteria Francescana, einem drei Sterne Restaurant in Italien (aus der Netflix Serie „Chef’s Table“). Die Gerichte, die in Botturas Restaurant serviert werden, haben eine Geschichte. So auch das Desert „Oops! I dropped the lemon tart“.

Ursprünglich verließ es untere einem anderen Namen die Küche, doch bevor es serviert werden konnte wurde es versehentlich durch den Sous Chef Taka Kondo fallen gelassen. Dieser sei als Japaner laut Bottura bereit gewesen sich für seinen Fehler umzubringen und so habe er - Bottura - seinem Sous Chef an diesem Tag mit den Worten: „Taka, it’s amazing. It’s the metaphor for south Italy.“ das Leben gerettet. Das Gericht „Oops! I dropped the lemon tart“ sieht seit dem tatsächlich aus wie ein heruntergefallenes Dessert. Es steht für ein Süditalien, in dem man nie weiß, ob Geschäfte gerade geöffnet sind oder nicht; es steht dafür das Imperfekte des Lebens so zu nutzen, dass Neues entstehen kann: „Keep space open for poetry in your everyday life, with witch you can jump and imagine everything“ um es in Massimo Botturas Worten zu sagen.

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Lebendige Weihnachten

Über die Lust am Unerwarteten und Imperfekten darf alles entstehen; nur so kann Neues erwachsen. Und vor allem macht es Spaß! Eine Haltung, die ich für die Zeit der Feiertage sehr hilfreich finde, kommt aus dem Improvisationstheater: „Ja“ sagen zu dem, was kommt und schauen, was sich daraus zaubern lässt. Die Loriot-Momente des Lebens (und der Feiertage) feiern. Wer weiß, vielleicht ist „Oops! I dropped the Kartoffelsalat“ oder sogar „Oops! I dropped the Happy Meal“ der perfekte Titel für kommende Festtagsmenüs. 

In diesem Sinne wünsche ich und das MEG-Blog Team möglichst imperfekte Feier- und freie Tage für alle, die selbst feiern, die Kuckuckskinder und die, die die einfach nur die freien Tage genießen!

Autor: Chawwah Grünberg

Chawwah arbeitet in der psychosozialen Nachsorge im Elternhaus für das krebskranke Kind in Göttingen und studiert nebenbei in Kassel im Master Klinische Psychologie und Psychotherapie. Ihre Weiterbildungen in systemischer Therapie und Beratung hat sie in Heidelberg gemacht und absolviert aktuell Module am Deutschen Institut für Provokative Therapie. Außerdem spielt sie leidenschaftlich gern Theater und hat schon ein paar Jahre als Theaterpädagogin auf ihrem (29 Jahre jungen) Buckel.

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