Warum es in Geschlechterfragen Heilung statt Spaltung braucht – zum Motto der MEG Jahrestagung 2019 „Gender, Sex und Identität: Hypnotherapie und Vielfalt.

Das Thema ist momentan medial allgegenwärtig: Alte, weiße Männer. Sie repräsentieren das Patriarchat und dessen Privilegien. Daraus resultieren Probleme für alle, vor allem aber für Frauen. Sie haben mit größeren Herausforderungen in der Berufswelt zu kämpfen. Sie werden öfter Opfer von sexualisierter Gewalt. Junge weibliche Körper werden zu Werbezwecken objektifiziert. Die Fronten scheinen also klar: hier die männlichen Täter, dort die weiblichen Opfer. 

Dass die Sache etwas komplexer ist (und es vielfältige Wege hin zu einem gerechteren Miteinander geben kann) wurde in verschiedenen Vorträgen und im Diskussionsforum der MEG Jahrestagung deutlich.

Ein weiteres Thema der Jahrestagung war die „Vielfalt“. Die Reflektion und Neuinterpretation von Geschlechterrollen und Erwartungen bietet vielfältige Möglichkeiten. Manchen machen diese Entwicklungen aber auch Angst, da durch diese Sichergeglaubtes infrage gestellt wird.

Der Tenor der Diskussionsbeiträge auf der Tagung war daher: Wir wollen Wege zu einer Gesellschaft finden, in der Menschen ohne Angst verschieden sein können.

Elsbeth Freudenfeld bei der Eröffnung der Jahrestagung 2019. Foto: Martina Schrenk

Eine Klarstellung am Anfang: bei der Beschreibung geschlechtstypischer Qualitäten und Probleme handelt es sich natürlich allenfalls um Tendenzen und nicht um absolute Wahrheiten!

Sie will, was er will – und sie macht, was er will

In einem der ersten Vorträge thematisierte Sandra Konrad Frauen als „das beherrschte Geschlecht“. Sie fragt, wie frei Frauen sein können nach Jahrhunderten der Unterdrückung. Damit meint sie die weibliche Sexualität im Speziellen, aber auch das Verhalten von Frauen in der Öffentlichkeit im Allgemeinen. Dabei zeigt sie, dass Frauen zwar heute theoretisch freier sind in ihrer Sexualität. Praktisch sind sie aber immer noch männlichen Wunschvorstellungen unterworfen. Diese wirkten in der heutigen Zeit vor allem unbewusst weiter: Sie würden internalisiert und dadurch gefühlt zu den eigenen Wünschen.

Passend dazu zitierte sie:

"Niemand ist hoffnungsloser versklavt als jene, die fälschlicherweise glauben, frei zu sein."― Johann Wolfgang von Goethe

Sandra Konrad Foto: Martina Schrenk

Konrad spricht daher kritisch von der „Sexualisierung der Frau als Gipfel der Emanzipation“.

Diese Rollenvorstellungen wirkten vor allem in einer öffentlichen Sphäre, also durch Medien und Werbung auf Frauen ein. Genauso aber auch auf Männer. So würden Rollenstereotype weiter festgeschrieben. Konrad macht aber auch deutlich, dass es in einer privaten Sphäre sehr wohl die Möglichkeit für Frauen gibt, ihre wahren Bedürfnisse anzusprechen und mit ihren (männlichen) Partnern darüber zu sprechen.

Öffentliche Sphäre vs. Private Sphäre

In der öffentlichen Sphäre werden Frauen oft sexualisiert und objektifiziert – die Persönlichkeit wird nachrangig. Weibliche Körper sind einer permanenten ungefragten Kommentierung und Bewertung ausgesetzt. Etwas, was Männer in dieser Form nicht erleben müssen. Hierdurch reproduzieren sich Normen und Klischees, die auf die Handlungen einzelner Personen rückwirken. Ein Teufelskreis entsteht. Gleichzeitig erwecken prominente Frauen den Eindruck, dass dies selbstbestimmt geschehe. Frauen müssen heute nicht mehr machen, was der Mann will. An diese Stelle tritt ein neuer Narrativ: Sie will, was er will. Und sie macht, was er will. Das eigene Begehren werde dem Begehrt-werden durch den Mann untergeordnet. So werde aus der unterdrückten Frau die selbstbeherrschte angepasste Frau.

In der privaten Sphäre hingegen komme es zu Rücksichtnahme und Entgegenkommen durch Männer. Hier können Grenzen und Bedürfnisse der Frau, die in der Pornografie oftmals als nicht-existent dargestellt werden, thematisiert werden. Die Partnerschaft kann somit zum Raum werden, an dem Gleichberechtigung verwirklicht werden kann. Männer und Frauen haben hier gemeinsam die Chance selbstbestimmte Normen zu entwickeln. Dies könnte ein Schritt zu einer schambefreiten Gesellschaft sein.

Auch Männer leiden unter dem Druck von Rollenklischees

Denn auch Männer scheinen Probleme mit den patriarchalen Strukturen zu haben: So sagte Dirk Revenstorf, dass laut einer Umfrage 81 % der Frauen stolz auf ihr Geschlecht seien, während das nur 17 % der Männer sagten. Woran liegt es nun, dass auch Männer oftmals leiden?

 Ein Problem sei laut Revenstorf die schwierige Lage des modernen Mannes. Auf der einen Seite würde von ihm verlangt, seine Privilegien an die Frau abzutreten. Auf der anderen Seite mangelt es an erfüllenden Vorbildern. Noch immer wird von Männern eher gefordert, sich von ihren Gefühlen abzuspalten. Zum Beispiel um emotional beanspruchende Arbeiten zu erledigen wie als Soldat, Notfallsanitäter oder in Schlachtfabriken. Und noch immer leiden Männer an dem „mangelnden Zugang zu den eigenen Gefühlen – sei es Unwilligkeit oder Unfähigkeit“. Laut Revenstorf sei der traditionelle Mann der Frau mit seiner kühlen rationalen Art ohnehin unterlegen: In der heutigen Zeit sei Empathie und Vernetzung statt gefühlloser Stärke und Konkurrenzdenken gefragt.

Dirk Revenstorf in seinem Vortrag: "Quo vadis Mann." Foto: Martina Schrenk

Woher aber kommt die Resistenz der Männer sich zu verändern? Ein Grund könne sein, dass sie wenig durch die Emanzipation der Frau zu gewinnen haben. Sie müssten ja schließlich auf viele Privilegien verzichten. Bei näherer Betrachtung könne das Ablegen von toxischer Männlichkeit aber positive Folgen haben: Der starke Rollendruck, der auf Männern lastet, führt oft zum Burnout oder gar Selbstmord. Auch frauenfeindliches Verhalten, welches in der öffentlichen Sphäre allgegenwärtig ist, könne dann aufgegeben werden. In Bezug auf die Sexualität müsse das Ziel sein, das männliche Interesse respektvoll aber zielgerichtet ohne Scham zum Ausdruck zu bringen.

Biologische Unterschiede und Qualitäten des Männlichen und Weiblichen

Dabei sei es, so wurde an verschiedenen Stellen der Tagung betont, wichtig zu sehen, dass sowohl Männer als auch Frauen besondere Qualitäten haben.

 Die Zuschreibung der männlichen und weiblichen Eigenschaften können hierbei auch durch eine Analogie in der Natur dargestellt werden. In der „Yin-Yang Meditation“ nannte Manu Giesen als Beispiel die menschlichen Keimzellen: Zum einen die zielstrebigen männlichen Samenzellen. Zum anderen die empfangenden weiblichen Eizellen. Als Menschen tragen wir aber Anteile beider Geschlechter in uns.

Dirk Revenstorf betont daher, dass es um den „Abbau der sozial konstruierten Unterschiede bei gleichzeitiger Beachtung der facettenreichen biologischen Kerngeschlechtlichkeit“ gehe.

Es sei wichtig, Anteile beider Geschlechter in uns wahrzunehmen. Dabei müssten wir vor allem mit den dominanten Anteilen verhandeln, damit sie Raum geben für das andersgeschlechtliche Anteile in uns. Dies machte Kai Fritzsche bei der Podiumsdiskussion deutlich. Ein wichtiger Schritt hierzu sei, weibliche Eigenschaften gegenüber männlichen nicht länger abzuwerten. Denn dies sei ein Grund, weswegen weibliche innere Anteile oftmals unterdrückt würden. Wenn dieser Schritt gelingt, kann es auch für Männer einfacher werden, ihre weiblichen, empfänglichen Anteile besser zum Ausdruck zu bringen.

Podiumsdiskussion Foto: Martina Schrenk

Die Jokerrolle – Transpersonen und ihr spezieller Blickwinkel – Stärken und Probleme

Zudem müssen wir berücksichtigen, dass es in Wirklichkeit mehr gibt als zwei Geschlechter. Darauf machte in ihrem Vortrag und bei der Podiumsdiskussion (bei der sie sich selbst in Hinblick auf das Geschlechterverhältnis der Podiumsdiskussion augenzwinkernd „die Jokerrolle“ zuschrieb) Mari Günther aufmerksam. Schätzungsweise jeder 400. Mensch, der in Deutschland geboren werde, sei intergeschlechtlich. Obwohl es sich hierbei um einen eindeutigen Zustand und kein Defizit handelt, werde immer noch ein gesellschaftlicher Druck ausgeübt: Durch Operationen an Neugeborenen solle für „Klarheit“ gesorgt werden. Dabei haben Intergeschlechtliche und auch Transpersonen oftmals besondere Stärken. Sie haben einen speziellen Blickwinkel und vereinen das angesprochene Prinzip „Heilung statt Spaltung“ und „Vielfalt“ oftmals schon deutlich besser als biologische Frauen und Männer. Gleichzeitig verwehren sie sich gegen eine Zweiteilung der Gesellschaft, wodurch eine Unterdrückung des anderen Geschlechts erschwert würde.

Mari Günther betonte aber auch, dass Transpersonen in unserer Gesellschaft oftmals noch einen schweren Stand haben – was sich beispielsweise an der Diskussion über Unisex-Toiletten zeige. Viele Transpersonen verzichteten lieber auf Toilettengänge im öffentlichen Raum aus Angst vor Anfeindung und Ausgrenzung. Große Institutionen wie die MEG müssten sich daher klar bekennen zu Transpersonen und ihren Themen, um einen Wandel im Bewusstsein voranzutreiben.

Statt einfacher Antworten – spannende Frage stellen und darüber reden

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Thema Gender und Vielfalt selbst ein Vielfältiges ist. In Vorträgen, aber auch in persönlichen Gesprächen wurde deutlich, dass der Weg zu einem gleichberechtigten Miteinander der Geschlechter noch lange nicht zu Ende beschritten ist. Bestehende Privilegien müssten sichtbar gemacht und hinterfragt werden. Dazu sei es wichtig die Autonomie von Frauen und Männern gegenüber gesellschaftlichem Druck zu stärken.

Sandra Konrads Forderung ist, dass die neue weibliche Freiheit mit Selbstbestimmung aufgeladen wird. Frauen sollten mehr auf ihre eigenen Bedürfnisse hören. Unterstützt werden sollten sie durch Männer, die alte Rollenklischees hinterfragen. Diese müssten besonders in Erscheinung treten, um einen Wandel zu ermöglichen.

Das Herz der MEG schlägt laut Elsbeth Freudenfeld für die Vielfalt. Diese Vielfalt helfe, den scheinbar starren Begriff Identität dynamisch werden zu lassen. Frauen seien zu häufig auf Harmonie ausgerichtet und stellen ihre eigenen Bedürfnisse hintenan. Dabei seien Männer gerade in der privaten Sphäre offen für weibliche Bedürfnisse. Es sei wichtig, weniger über Rollenerwartungen zu spekulieren. Stattdessen gelte es sich zu äußern, gemeinsam zu reden und verhandeln.

Im Hinblick auf eine gerechtere Gesellschaft wurde in den Vorträgen und Diskussionen eines deutlich: Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Herausforderungen. Vielmehr sollten spannende Fragen gestellt werden, die die bestehenden Machtverhältnisse hinterfragen und bestenfalls dekonstruieren.

Autor: Aldo Haumann MA. MSc.

Aldo hat einen Abschluss in Soziologie und Philosophie und absolvierte in Wien ein Masterstudium für hypnosystemische Beratung und Interventionen. Er macht zurzeit eine Ausbildung zum Lebens- und Sozialberater und systemischen Coach. Im Zuge dieser Ausbildung betreut er hypnosystemische Kongresse und Institute in Deutschland und Österreich.

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