Die Zeiten des Patriarchats sind vorüber, oder? ODER? Wie kann es sein, dass die sexuelle Selbstbestimmung der Frau noch immer eine Illusion ist?

Zeitsprung: März 2019. Milton Erickson Kongress, Bad Kissingen, Max-Littmann-Saal. Der ganze Saal ist vom Lachen des Publikums erfüllt. Gewiss, das, was soeben auf der Leinwand abläuft, ist zum Lachen; zum Lachen in seiner Absurdität. 

Es thematisiert, was sonst so selten thematisiert wird; was im Alltag vollkommen selbstverständlich über unsere Leinwände im Mini-Format läuft. Auf Smartphones, Laptops, Fernsehern, Tablets in vielerlei Variation und Dauerschleife. 

Heute und hier auf dieser großen Leinwand, während des Vortrags von Sandra Konrad, sehen wir ein Musikvideo. Konkret sehen wir das Video zu „Blurred Lines“ von Robin Thicke. Ein ganz normales 0-8-15 Musikvideo: Halbnackte Frauen, große Brüste und große Hintern. „I know you want it“; „One thing I ask of you: Let me be the one you back that ass up to”; “No more pretending, ´cause now you winning”; “Must wanna get nasty”; “I know you want it” …

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Es geht um Sex. Klar, um was sonst. Sex (in unserem heteronormativen Alltag) geht nicht ohne Frauen, also geht es auch um Frauen. Und so wie viele andere Videos vermittelt dieses - meiner Meinung nach - ein völlig absurdes Bild von Sexualität und weiblicher Lust: Sex und Frauen passen am besten zusammen, wenn die Frauen heiß sind. Heiß und willig. Frauen als kurviges williges Fleisch.

Daseins-Berechtigung: Dass es heiß macht; dass es geil anzugaffen ist; dass es geil ist es anzugrapschen, wenn ich grad Bock drauf hab – und es auch einfach so verdammt scharf angezogen ist. Vor allem, wenn ich weiß, dass es eigentlich angegrapscht werden will - wie es der Liedtext suggeriert.

Huch, warum klingt das hier plötzlich so aggressiv? Was macht mich daran denn so wütend? Ich glaube, weil es auch darum geht, dass wir uns so sehr an diese Bilder und Erzählungen gewöhnt haben, dass wir gar nicht mehr mitbekommen, wie bescheuert das eigentlich ist. 

Was ich rund um dieses Video erlebe, ist ein Vortrag über weibliche Lust und Selbstbestimmung. Und mir persönlich bleibt in der grölenden Menge bei diesen Bildern und Zeilen das Lachen im Hals stecken. Findet das Publikum, bestehend aus hypnotherapeutisch arbeitenden Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts, das wirklich witzig? Uff.. Wenn ja, dann finde ich das traurig. 

Es bildet sich ein fetter Kloß, wo eben noch Lachen war; oder wenigstens der Versuch von Lachen. Ein recht kläglicher Versuch, denn so ganz wollte es schon zu Beginn nicht klappen mit dem Lachen über diese weiblichen, nackten Körper, die in überdimensionaler Größe vor dem gesamten Saal begrapscht und besungen werden. 

Mein Humor ist ein düsterer, pech-schwarzer Humor – normalerweise. Aber heute ist mir einfach nur schlecht und zum Weinen zumute. Ich höre Sandra Konrad sprechen über die Idee einer sexuell selbstbestimmten Frau, die durch Pornographie und die Darstellung von Frauen in den Medien (etc.) am Ende dennoch kein Gefühl für die eigene Lust, Befriedigung und Begierde hat. Von jungen Frauen, die es für selbstverständlich halten, ihre männlichen Partner oral zu befriedigen, den selbigen die eigene orale  Befriedigung jedoch nicht „zumuten“ wollen. 

Und mir kommen die Tränen. Der fette Kloß ist zu salzigem Wasser geworden. Tränen der Wut und der Trauer gemischt mit der Freude, dass dieser Vortrag so verdammt gut ist - hell yeah! Und Verzweiflung, weil alle Folien und alle Worte beinahe zu schreien scheinen: „Es ist nicht genug, verdammt! Es ist schon so viel passiert (was cool ist!) und trotzdem ist es noch immer nicht genug! Was ist das für ein Pflaster, das wir hier so jämmerlich auf die unsere gesellschaftliche Wunde pressen? 

Wenn wir uns selbst einreden, das höchste Maß an Emanzipation sei erreicht, wenn wir uns als sexuell selbstbestimmte Frauen ganz „freiwillig“ den vorherrschenden noch immer patriarchalen Normen unterwerfen. Wir machen es schließlich aus freiwilligen Stücken und nicht etwa, weil wir in einer Welt aufwachsen, in der Sexismus und sexualisierte Gewalt noch immer an der Tagesordnung stehen während gleichzeitig an allen Enden und Ecken Gleichberechtigung der Geschlechter behauptet wird.

Sandra Konrad schließt ihren Vortrag mit Überraschen: Mehr Widerworte habe sie erwartet. Und ich denke: Widerworte wogegen? Oder besser Widerworte wofür? Denn alles, was sie aufzeigte, war so klar und so erschreckend, dass mir jene verrückt erschienen, die Widerworte haben könnten. 

Und nun tue ich so, als sei dieses Etwas, diese Ideen, der Inhalt dieses Vortrages die Wahrheit und verrate in meiner Berührtheit beinahe meine eigenen so geliebten konstruktivistischen Prinzipien: Dass es sowas wie die eine Wahrheit doch gar nicht geben kann. Und gleichzeitig bin ich so... ja, was denn eigentlich... mir fehlen die Worte, mir fehlen die Worte, ich bin... hm.. Notiz an mich selbst: Vielleicht ist es manchmal okay die Ambivalenz über Bord zu werfen.

Spielen wir ein Spiel. Es heißt: Errate den Suchbegriff.

Die Antwort ist: „Female Sexuality” hmm… Interesting!

Heute: September 2019. 

Nun ist der Milton Erickson Kongress bereits sechs Monate her und auch bei mir ist der Alltag wieder eingekehrt. Ein Alltag, in dem ich oft an Sandra Konrads Vortrag denke, anderen Menschen von diesem erzähle und mich selbst immer wieder dabei erwische, wie ich über mich selbst schmunzele, oder mich über mich selbst ärgere. „Das beherrschte Geschlecht – warum sie will, was er will“ empfehle ich fleißig weiter - mal expliziter, mal impliziter (wie beispielsweise jetzt gerade 😉 ).

„Okay” könntet Ihr jetzt sagen. „Und nun? Was willst Du uns damit sagen?” Gute Frage, habe ich auch überlegt und ich glaube, die Antwort ist: Fokus. Wir sind so eingetrancet in unserem Alltag und so sehr umgeben von diesen absurden und sexistischen Darstellungen weiblicher Sexualität und Lust, dass sie uns gar nicht mehr auffallen.

Die Themen aus Sandras Vortrag begegnen mir täglich. Natürlich. Ich bin eine Frau und ich lebe in dieser Welt und bin somit beinahe automatisch in Kontakt mit weiblicher Sexualität und Lust, Selbstbild, Körperempfinden, Fremdbild und so weiter und fort. So wie die Menschen um mich herum eben auch; manche bewusster, andere unbewusster. Und ich glaube wir dürfen uns (und andere, wenn sie Lust haben mitzugehen) ab und zu noch ein wenig mehr in die Aufmerksamkeit schubsen. Dreht man den Satz „Where focus goes, energy flows” um, so lässt sich annehmen, dass dort wo kein Fokus ist, auch keine Energie landet. Und Energie braucht es nun mal, damit sich etwas ändern kann.

Zurück zu der Frage: Was will ich also? Ich will Euch einladen Eure Energie darein zu stecken Musikvideos mal bewusst anders anzusehen; Kleinigkeiten im Alltag wahrzunehmen, die sonst untergehen, weil sie so normal für uns sind. Kritisch zu hinterfragen, was wir mit dem ersten „Mensch Mädchen, Du wirst ja immer hübscher” und „Jungs weinen nicht!” eingetrichtert bekamen und so brav als normal angenommen haben. Euch zu fragen, was das genau sein soll: „normal”.

Ich will dazu beitragen Bewusstsein zu schaffen. Werde ich mir über etwas bewusst, habe ich die Wahl. In diesem konkreten Musik-Fall: Die Wahl, ob das Dargestellte meinen Werten entspricht. Willst Du das als „normal” anerkennen? In welcher Welt willst Du leben? Und dann kannst Du Dich bewusst entscheiden, was Du machen willst, in welcher Welt Du leben willst.

Natürlich, das kommt mit einem Preis. Ich treffe bewusst Entscheidungen und für bewusst getroffene Entscheidungen muss ich eben auch die Verantwortung tragen. Und dazu gehört - wer hätte das gedacht - auch ein wenig Mut. Mut sich auch mal unbeliebt zu machen, Mut der Stachel im Fleisch zu sein, Mut auszuhalten, dass andere die Augen verdrehen, weil es sich erstmal komisch anhört, wenn ich „Student (Sprech-Pause) innen” sage.

Sich Dingen bewusst zu werden und dann zu handeln kommt mit einem Preis, aber ich glaube das ist es wert!

Autorin: Chawwah Grünberg

Chawwah arbeitet in der psychosozialen Nachsorge im Elternhaus für das krebskranke Kind in Göttingen und studiert nebenbei in Kassel im Master Klinische Psychologie und Psychotherapie. Ihre Weiterbildungen in systemischer Therapie und Beratung hat sie in Heidelberg gemacht und absolviert aktuell Module am Deutschen Institut für Provokative Therapie. Außerdem spielt sie leidenschaftlich gern Theater und hat schon ein paar Jahre als Theaterpädagogin auf ihrem (29 Jahre jungen) Buckel.

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